Radballbericht von Heinz-Dieter Kuhlmann  

Happy-End für die Turtles: Weltcupsieg

Grosser Tag zum doppelten Jubiläum in Mücheln. Der Ausrichter VfH Mücheln des Finales im Radball-Weltcup feierte sein 60-jähriges Vereinsjubiläum und der Radball-Weltcup mit dem Technischen Delegierten der UCI feierte sein 10-jähriges Bestehen. 800 Zuschauer sahen Radball der Superlative und am Ende fühlte sich jeder Zuschauer wie ein Sieger, denn ihre Lieblinge Holger und Jens Krichbaum vom SV Eberstadt schafften den größten Erfolg ihrer Laufbahn: Weltcup-Gesamtsieger 2011. Es war wie im Märchen, zum Ende der gemeinsamen Karriere die beste Leistung aller Zeiten. Der langjährige Coach Ex-Weltmeister Christian Heß erzählte stolz: „Jetzt, wo die Mannschaft meine Spielversion kapiert hat, hört der Holger auf!“ Fürwahr, so eine tolle Angriffsmannschaft wie Eberstadt wird in der Radballszene fehlen.

Mit Superleistungen haben die 10 Teams aus 5 Nationen die Zuschauer über 11 Stunden in der traditionsreichen Halle Eptinger Rain in Mücheln verwöhnt. Natürlich hatte der Vertreter Asiens, das Team Kuramae aus Japan bei ihrem ersten Start in Europa überhaupt absolut keine Chance. Aber unter Berücksichtigung der Tatsache, daß die Spieler erst am Vortag gelandet sind, Jetlag und die Zeitumstellung verkraften mussten, war ihre Leistung wirklich beachtenswert. Auch das Team des Ausrichters VfH Mücheln (Herbert Pischl und Mike Rödger) - mit der Wildcard am Start – konnte letztlich nicht mit den Glanzleistungen der über die Qualifikationsturniere nominierten 8 Mannschaften aus Europa mithalten. Für diese war das 1. Ziel, Erreichen des Halbfinales, schon schwer genug.

In Gruppe 1 waren die deutschen Bundesligarivalen SV Eberstadt (Gebr. Krichbaum) und SV Ehrenberg (Mike Pfaffenberger und Rico Rademann) nicht zwingend die Favoriten, denn Vize-Weltmeister RS Altdorf und Weltcup-Rankingsieger RC Höchst I waren in dieser Saison erfolgreicher. Schon Spiel 1 brachte das deutsche Duell und es war klar, daß der Verlierer gleich „schlechte Karten“ für den Wettbewerb hat. Nach tollem Kampf auf Augenhöhe brachten die Turtles die „big points“ auf ihre Habenseite knapp mit 2:1 Toren und die Art des Sieges verschaffte ihnen möglicherweise den Teamspirit dieses Tages. Mit Biss im Spiel und immer einen Tick schneller als der Gegner wurde auch der 2-malige Gesamt-Weltcupsieger RS Altdorf mit 5:3 Toren bezwungen. SV Eberstadt hatte also schon 6 Punkte auf dem Konto, als die Gegner ihren Wettbewerb eigentlich erst starteten. RC Höchst I hatte nach dem Pflicht-Dreier gegen Kuramae die ersten Feuerprobe gegen RS Altdorf zu bestehen. Der Vize-Weltmeister aus der Schweiz hatte schon die Niederlage gegen SV Eberstadt im Gepäck und war gefordert. RS Altdorf führte zwar zu Pause mit 3:2 Toren, aber RC Höchst I bog das Spiel noch um zum eigenen 6:4-Erfolg. Damit war RS Altdorf praktisch raus. Dieses wurde dann perfekt, als die Spieler aus dem Kanton Uri auch noch gegen SV Ehrenberg im Spiel „mit offenen Visier“ klar 5:10 verloren. Mit dem Erfolg über Kuramae hatte SV Eberstadt zwar zwischenzeitlich 9 Pluspunkte auf dem Konto, jedoch nach dem Weltcup-Modus war bei einer Niederlage gegen RC Höchst I noch die Punktgleichheit mit RC Höchst I und SV Ehrenberg möglich. Diese Situation drohte tatsächlich, denn gegen RC Höchst I lagen die Turtles zur Halbzeit 0:2 zurück. Es galt also, für die 2. Hälfte die Kraft zu bündeln und das gelang auch, Anschluß zum 1:2 und das Resultat hatte bis eine Minute vor Spielende Gültigkeit. Es begann fieberhaft das rechnen, reichen im Zweifel in der internen Tabelle 3 Punkte bei 3:3 Toren? Nein, denn SV Ehrenberg wäre gemeinsam mit RC Höchst I mit einem Ein-Tore-Sieg ab 3:2 aufwärts dank der mehr geschossenen Tore vorbeigezogen. Also gab Coach Christian Heß grünes Licht für die Offensive und mit dem 2:2 wurde der Sack zum Halbfinale zugemacht. So kam es im letzten Spiel der Vorrunde zwischen SV Ehrenberg und RC Höchst I noch zum Endspiel um den 2. Halbfinalteilnehmer, die Thüringer mussten gewinnen. SV Ehrenberg legte eine begeisternde 1. Hälfte mit der 5:1-Führung aufs Parkett. In der 2. Hälfte wurde es wider Erwarten immer enger und RC Höchst I kam bis auf 4:5 heran, ehe das erlösende 6. Tor für SV Ehrenberg fiel. RS Altdorf mit der größten Fangemeinde im Rücken sicherte sich wenigstens Platz 4 der Vorrunde gegen die wackeren Japaner.

In Gruppe 2 war man gespannt auf den Auftritt des Weltmeisters RC Höchst II. Dieser überzeugte zunächst nicht, denn SNA Gent spielte frech auf und stellte den Favoriten vor so manche Probleme. Gent führte sogar 2:1 beim Seitenwechsel, am Ende zwar doch der Dreier mit 3:2 Toren, aber Gent hatte einen Punkt verdient. Ähnlich erging es Weltcup-Verteidiger RV Gärtringen gegen VfH Mücheln, das natürlich ehrgeizig zu Werke ging. RV Gärtringen lag allerdings ständig knapp in Führung, so daß Pischl-Rödger ihr Verteidigungskonzept nicht umsetzen konnten. Auch hier gingen die 3 Punkte mit 4:2 Toren an den Favoriten. Ähnlich lief Müchelns Spiel gegen RV Winterthur, die Eidgenossen schossen oftmals ungenau, aber die Konter von Mücheln waren nicht immer erfolgreich. Dennoch war das 4:5 für das Team des Ausrichters respektabel. Wie erwartet fiel die Gruppenentscheidung zwischen RC Höchst II, RV Winterthur und RV Gärtringen. Wegweisend war das Match zwischen RC Höchst II und RV Winterthur. Jiricek-Waldispühl beherrschten klar die 1. Hälfte und führten 2:0, ehe Schneider fast mit dem Pausenpfiff noch das 1:2 erzielte. Schon 3 Halbzeiten vorbei, wo der Weltmeister mit nur 4 geschossenen Toren nicht überzeugen konnte. Nun war er gefordert und tatsächlich kippte das Spiel, das ohnehin taktisch geprägt war, doch noch zum 3:2-Erfolg. Für RV Winterthur also eine denkbar schlechte Ausgangsbasis für das Spiel gegen RV Gärtringen und das vorzeitige Aus drohte tatsächlich bis zur 11. Spielminute, denn zu diesem Zeitpunkt führte RV Gärtringen 3:1. RV Winterthur musste kommen und hatte Erfolg, der 3:3-Ausgleichtreffer in der Schlussminute hielt die Chancen am Leben. Derweil hatte sich RC Höchst II mit dem 7:1 über das kräftemäßig nachlassende VfH Mücheln den 9. Pluspunkt gesichert und vorzeitig das Halbfinale erreicht. RV Winterthur hielt sich im Rennen mit dem zwar ungefährdeten 10:7-Erfolg über SNA Gent, jedoch waren Konzentrationsmängel sichtbar, denn allein 5 mal konnte Christoph Baudu in eine Abgabe der Schweizer hineinfahren. 7 Punkte waren erreicht und die hatte momentan auch RV Gärtringen vor dem letzten Vorrundenspiel gegen RC Höchst II. Mit einem Sieg oder Unentschieden wäre RV Gärtringen gemeinsam mit RC Höchst II ins Halbfinale eingezogen. Aber der Weltmeister RC Höchst II wollte hier im Prestigespiel gegen seinen Vorgänger aus Deutschland Flagge zeigen und zog nach der 4:3-Pausenführung am Ende mit 6:3 Toren sicher auf Platz 1 weiter. Damit waren RV Gärtringen und RV Winterthur punktgleich und das direkte Spiel endete remis, ein 4-Meter-Schießen musste also die Ränge 2 und 3 klären. Hier waren Uwe Berner und Matthias König mit 4:2 Toren treffsicherer, weil Peter Jiricek seinen 1. Schuss vorentscheidend nicht verwandeln konnte.

Im Spiel um Platz 9 und 10 gab es den erwarteten Erfolg des Heimteams über Kuramae, bei dem sich Herbert Pischl von der Radballbühne verabschiedete. Oder doch nur vorübergehend?

Platz 7 sicherte sich RS Altdorf gegen SNA Gent. Nach der knappen 3:2-Halbzeitführung für RS Altdorf erlahmten die Kräfte bei den Belgiern, die ein gutes Turnier gespielt haben, in der 2. Halbzeit.

Wesentlich mehr Spannung gab es im Spiel um den 5. Rang. RC Höchst I und RV Winterthur hatten durchaus auch mit einem Weltcup-Gesamtsieg spekuliert, also hier ein Match zwischen den Enttäuschten. Der Europacup-Sieger aus Höchst legte hier vielversprechend vor und führte 3:1, aber auch hier schaffte der Ex-Weltmeister von 2009 aus Winterthur wieder den 3:3-Gleichstand, ein 4-Meter-Schießen musste also her, das mit 6:5 Toren für die Schweizer endete.

Im Halbfinale wurde also der Weltmeister RC Höchst II von den 3 deutschen Topp-Teams auf die Probe gestellt. Das 1. Halbfinale brachte den alten Bundesligakracher SV Eberstadt gegen RV Gärtringen. Bei Teams waren absolut gleichwertig und neutralisierten sich gegenseitig. Fast schon logisch, das es nach 1:1 zur Pause am Ende auch mit 3:3 remis stand. 4-Meter-Schießen war angesagt, eigentlich eine Paradedisziplin der Württemberger. Aber die Turtles waren vom Punkt einfach abgezockter und Jens Krichbaum im Tor eine Bank. Mit 6:5 Toren war das Finalspiel erreicht, im letzten Turnier das Finale, sagenhaft!  Im 2. Halbfinale wartete auf die Vorarlberger der Deutsche Meister SV Ehrenberg. Von der 1. Sekunde an war RC Höchst II voll da, war taktisch clever auf die Angriffe der Thüringer eingestellt und spielte brutal effektiv. Die 3:1-Führung zur Pause war verdient und in der 2. Hälfte zerfiel das Selbstvertrauen bei SV Ehrenberg zunehmend. Zwischenzeitlich eine 7:1-Führung für die Österreicher, der Deutsche Meister hat seinen Meister gefunden.

Im kleinen Finale um Platz 3 zwischen RV Gärtringen und SV Ehrenberg ging es um den Platz auf dem berühmten Stockerl. Bei SV Ehrenberg steckte irgendwie noch der Schock vom 2:8-Debakel gegen RC Höchst II in den Gliedern. Das Spiel vor allem im Angriff wirkte nicht befreit und diese Unsicherheiten bestrafte RV Gärtringen gnadenlos. 4:1-Führung für Uwe und Matze und das 4 Minuten vor Spielende, das Spiel schien verloren zu sein. Aber dann bekamen Pfaffenberger-Rademann plötzlich die 2. Lunge und es ging ein Ruck durch das Team. 3 Tore brachten doch noch den nicht mehr erwarteten Gleichstand zum 4:4, eine Verlängerung über 1 x 7 Minuten vor fällig. In dieser Overtime schaffte SV Ehrenberg sogar die 5:4-Führung und kontrollierte das Spieltempo bis, ja bis die beiden Ehrenberger Spieler sich im Höhe des eigenen 4-Meter-Punktes gegenseitig umfuhren und für den fälligen Freischlag bedankte sich Uwe Berner zum 5:5-Ausgleich. Fast schon logisch, daß RV Gärtringen mit diesem Geschenk im Rücken auch noch den Siegtreffer zur Bronzemedaille markierten.

Das Finale sollte der absolute Knaller des Tages werden. Weltmeister RC Höchst II hatte schon die deutsche Phalanx RV Gärtringen und SV Ehrenberg demontiert, nun war SV Eberstadt dran. Aber was dann Jens und Holger Krichbaum in ihrem letzten gemeinsamen Radballspiel zeigten, war der wahre Wahnsinn. Beide waren innerlich so hochgepusht, das sie wie im Trance spielten, es wurde ihr Spiel des Lebens und sie haben wahrlich viele Superspiele in ihrer Laufbahn abgeliefert. Holger Krichbaum kämpfte im Feld und Jens als Keeper war griffig im wahrsten Sinne des Wortes. Holger schloß einen Superangriff zum 1:0 vorn halbe Höhe ab und Jens schaffte mit etwas Glück hinten Innenpfosten das 2:0, dem RC Höchst II kurz vor der Halbzeit noch den 1:2-Gegentreffer entgegen setzen konnte. 7 Minuten durchhalten, aber reicht die Kondition? Natürlich erhöhten Schneider-Schnetzer jetzt das Tempo und waren brandgefährlich bei ihren Torschüssen. Die Turtles hielten dagegen und das Publikum war aus den Häuschen, was war das für ein Spiel! Binnen 30 Sekunden schafft Jens Krichbaum erst das 3:1 und dann nach einer Riesenparade im Tor per artistischem Drop-Kick sogar das 4:1. RC Höchst II gab sich wahrlich nicht geschlagen, es waren doch noch 4 Minuten zu spielen und was waren das für Granaten Richtung Eberstädter Tor. Aber hier wuchs Jens Krichbaum, von der Körperstatur wirklich kein Riese, über sich hinaus. 6 Eckbälle, Freischläge und eine Vielzahl sogenannte Unhaltbare, er war immer dran und das Tor war zugenagelt. Ein Zuschauer war sogar so fasziniert: “Der Jens würde jetzt sogar einen 4-Meter-Ball fangen.“ Es blieb beim 4:1, der sehr gut spielende Weltmeister war hier von Krichbaums „vom anderen Stern“ bezwungen worden.

Der größte Erfolg im letzten Wettbewerb, diese Geschichten schreibt der Radballsport. Jens jubelte“ geil, geil!“ Und Holger war mental so überwältigt, daß Tränen flossen, als er unter tosendem Beifall von der Radballbühne verabschiedet wurde. Er vergaß sogar, für die Siegerehrung seine Radballhandschuhe auszuziehen.

Das 10. Weltcup-Finale in Mücheln geht in die Annalen ein. Es war perfekt ausgerichtet vom VfH Mücheln und die Mannschaften zeigten allerhöchstes Niveau. Bezeichnend für die Fairness in der großen Familie der Radballer war die Tatsache, daß bei allen kniffligen Entscheidungen, egal welcher Spielstand herrschte, die Spieler bei Eckball oder nicht die Wahrheit sagten.